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ansehen, die mir bislang nie etwas gesagt haben. Vielleicht
sagen sie mir jetzt etwas. Wenn mich ein interessanter Mann
in eine Bar einlädt, werde ich die Einladung annehmen und
die ganze Nacht bis zum Umfallen tanzen. Anschließend
werde ich mit ihm ins Bett gehen - nicht wie früher, als ich
immer versuchte, die Kontrolle zu behalten, oder Gefühle
vortäuschte, die ich nicht empfand. Ich möchte mich einem
Mann hingeben, der Stadt, dem Leben und am Ende dem
Tod.«
Es herrschte bedrücktes Schweigen. Arzt und Patientin sahen
einander gedankenverloren an. Vielleicht dachten sie über
die vielen Möglichkeiten nach, die vierundzwanzig Stunden
einem bieten konnten.
»Ich kann Ihnen ein Aufputschmittel geben, doch ich rate
Ihnen davon ab«, sagte schließlich Dr. Igor. »Es wird Ihnen
die Müdigkeit, aber auch den inneren Frieden nehmen, den
sie brauchen, um all das zu erleben.«
Veronika wurde es schlecht: Immer wenn sie diese Spitze
bekam, geschah etwas Schlimmes in ihrem Körper.
»Sie werden immer blasser. Vielleicht sollten Sie besser
ins Bett gehen, und wir reden morgen wieder miteinander.«
Sie hätte am liebsten geweint, doch sie konnte sich be-
herrschen.
»Es wird kein Morgen geben, und das wissen Sie genau.
Ich bin müde, Dr. Igor, unglaublich müde. Deshalb habe ich
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um die Tabletten gebeten. Ich habe die ganze Nacht nicht
geschlafen, zwischen Verzweiflung und Resignation ge-
schwankt. Ich hätte wieder einen hysterischen Angstanfall
wie gestern bekommen können, doch was hätte das schon
geändert? Da mir noch vierundzwanzig Stunden zu leben
bleiben und ich noch so viel vorhabe, dachte ich mir, es wäre
besser, die Verzweiflung außen vor zu lassen.
Bitte lassen sie mich die wenige Zeit, die mir noch bleibt,
leben, Dr. Igor. Denn wir wissen beide, daß es morgen
schon zu spät sein kann.«
»Gehen Sie schlafen«, sagte der Arzt ernst. »Und kom-
men Sie heute mittag wieder. Dann reden wir weiter.«
Veronika sah, daß nichts zu machen war.
»Ich gehe schlafen und komme wieder. Haben Sie noch
ein paar Minuten für mich?«
»Ja, Minuten schon. Aber ich habe viel zu tun.«
»Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Gestern
nacht habe ich mich zum ersten Mal ganz frei selbst befrie-
digt. Ich habe Dinge gedacht, die ich zuvor nie zu denken
gewagt hatte, empfand Lust bei Dingen, die mich früher
erschreckt oder abgestoßen haben.«
Dr. Igor versuchte, so professionell wie möglich dazusit-
zen. Er wußte nicht, wohin dieses Gespräch führen würde,
und wollte keine Probleme mit seinen Vorgesetzten bekom-
men.
»Ich habe herausgefunden, daß ich verdorben bin, Herr
Doktor. Ich hätte gern gewußt, ob das dazu beigetragen hat,
daß ich mich umbringen wollte. Es gibt so vieles in mir, was
ich nicht kannte.«
>Nun, das ist nur eine AntwortIch brauche
die Krankenschwester nicht zu rufen, damit sie Zeugin un-
seres Gesprächs wird und ich so einen künftigen Prozeß
wegen sexuellen Mißbrauchs vermeiden
»Alle wollen wir andere Dinge tun«, antwortete er. »Und
unsere Partner auch. Was ist daran verkehrt?«
»Antworten Sie doch auf meine Frage!«
»Alles ist verkehrt. Weil, wenn alle träumen und nur ei-
nige ihre Träume umsetzen, alle Welt sich feige fühlt.«
»Auch wenn diese wenigen recht haben?«
»Wer recht hat, ist der Stärkere. In diesem Fall sind para-
doxerweise die Feigen mutiger, und es gelingt ihnen, ihre
Ideen durchzusetzen.«
Dr. Igor wollte das nicht weiter ausführen.
»Ruhen Sie sich bitte ein wenig aus. Ich habe noch andere
Patienten, um die ich mich kümmern muß. Wenn Sie mit-
ziehen, werde ich sehen, was ich in bezug auf ihre zweite
Bitte tun kann.«
Die junge Frau ging hinaus. Seine nächste Patientin war
Zedka, die entlassen werden sollte. Doch Dr. Igor bat sie,
sich einen Augenblick zu gedulden. Er mußte sich ein paar
Notizen über das Gespräch machen, das er gerade geführt
hatte.
Er mußte in seiner wissenschaftlichen Abhandlung über
das Vitriol ein ausführliches Kapitel über Sex einbauen, der
für einen Großteil der Neurosen und Psychosen verant-
wortlich war: Ihm zufolge waren sexuelle Phantasien elek-
trische Impulse im Gehirn, die, wenn sie nicht umgesetzt
wurden, ihre Energie in anderen Bereichen entluden.
Während seines Medizinstudiums hatte Dr. Igor ein in-
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teressantes Buch über sexuelle Minderheiten gelesen: Sadis-
mus, Masochismus, Homosexualität, Kropophagie, Voyeu-
rismus, den Drang, unanständige Wörter zu sagen. Anfangs
fand er, daß dies nur die abweichende Haltung einiger
gestörter Menschen sei, die nicht in der Lage waren, eine
gesunde Beziehung zum Partner zu haben.
Inzwischen hatte er mit seiner Berufserfahrung als Psy-
chiater und durch die Befragungen seiner Patienten be-
merkt, daß alle eine besondere Geschichte zu erzählen hatten.
Alle setzten sich in den bequemen Sessel in seinem Büro,
blickten zu Boden und hielten lange Vorträge über das, was
sie »Krankheiten« nannten (als wäre nicht er der Arzt) oder
»Perversionen« (als wäre es an ihnen und nicht an ihm als
Psychiater, darüber zu urteilen, was pervers war und was
nicht).
Und diese »normalen« Leute beschrieben einer nach dem
ändern die Phantasien, die im berühmten Buch über se-
xuelle Minderheiten standen, einem Buch, das im übrigen
das Recht eines jeden vertrat, den Orgasmus zu haben, den
er oder sie sich wünschte, allerdings nur unter der Bedin-
gung, daß er oder sie dabei die Rechte ihres Partners nicht
verletzten.
Frauen, die in Nonnenschulen erzogen worden waren,
träumten davon, erniedrigt zu werden: Männer, in Anzug
und Krawatte, hohe öffentliche Beamte erzählten, daß sie
ein Vermögen für rumänische Prostituierte ausgaben, nur
damit sie denen die Füße lecken konnten. Junge Männer
verliebten sich in junge Männer, Mädchen verliebten sich in
ihre Klassenkameradinnen. Ehemänner wollten zuschauen,
wenn ihre Frauen von anderen besessen wurden, Frauen ma-
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sturbierten beim kleinsten Hinweis auf einen Seitensprung
ihrer Männer, brave Mütter mußten an sich halten, um sich
nicht dem erstbesten Lieferanten hinzugeben, Familienväter
erzählten von geheimen Abenteuern mit den wenigen
Transvestiten, denen es gelang, durch die strenge Kontrolle
an der Grenze zu kommen.
Und Orgien. Es schien so, als hätten alle den Wunsch,
mindestens einmal im Leben an einer Orgie teilzunehmen.
Dr. Igor legte den Kugelschreiber einen Moment lang ab
und dachte über sich selber nach: er auch? Ja, er würde es
auch gern tun. Die Orgie, die er sich vorstellte, wäre
vollkommen anarchisch, fröhlich, es würde keine Besitz-
ansprüche mehr geben - nur Lust und Chaos.
War dies einer der Hauptgründe dafür, daß so viele Men-
schen von der Bitterkeit vergiftet wurden? Ehen, die wie
von einer erzwungenen Monogamie eingeengt waren und
aus denen (wie Untersuchungen belegten, die Dr. Igor sorg-
fältig in seiner medizinischen Bibliothek verwahrte) der
Wunsch nach Sexualität im dritten oder vierten Ehejahr
verschwand. Dann fühlte die Frau sich abgelehnt, der Mann
als ein Sklave der Ehe - und das Vitriol, die Bitterkeit be-
gann alles zu zerstören.
Die Menschen äußerten sich einem Psychiater gegenüber
offener als gegenüber einem Priester, weil der Arzt nicht mit
der Hölle drohen konnte. Während seines langen Berufs-
lebens als Psychiater hatten die Patienten Dr. Igor praktisch
alles erzählt, was man sich nur vorstellen konnte.
Erzählt. Selten getan. Sogar nach einigen Jahren Berufs-
erfahrung fragte er sich noch, warum alle so große Angst
davor hatten, sich anders als gewohnt zu verhalten.
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Wenn er es von ihnen wissen wollte, war die Antwort, die
er am häufigsten hörte: »Mein Mann wird mich für eine
Hure halten.« Wenn ein Mann vor ihm saß, sagte der:
»Meine Frau verdient Achtung.«
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